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Die wichtigen Dinge - Durch Bayern zurück nach Österreich

Verfasst in Waxenberg, am 15.10.2010

Von Vorarlberg über Bayern nach Hause ins Mühlviertel

Die meisten Menschen fangen viel zu früh an, die wichtigen Dinge im Leben zu spät zu beginnen. Stanislaw Lec

„Könnten wir nicht von hier mit dem Schlauchboot nach Landshut fahren?, frage ich Hermann und grinse feierlich. Wir sitzen am „Flaucher“, dem wunderbaren Naherholungsgebiet entlang der Isar unweit des Zentrums von München. Die halbe Stadt ist heute in die idyllische Uferlandschaft geströmt, um sich auf den geschwungenen Schotterbänken zu sonnen und im seichten, angenehm strömenden Wasser zu planschen. Gerade hat mir mein alter Freund von seiner Schlauchbootfahrt auf der Isar oberhalb von München erzählt. „Mh, ich weiß nicht, wie es flussabwärts ausschaut“, meint er, „aber wir können es auf jeden Fall versuchen.“ Unsere Augen leuchten auf wie ein Obi-Markt zur Weihnachtszeit. Ich weiß: die Sache steht!

Ein alter Traum
Die Pause in München tut mir gut, denn in den vergangenen Wochen war ich zügig unterwegs gewesen. Nachdem ich Bludenz verlassen hatte, ließ das wechselhafte Wetter keine Bummelstimmung aufkommen. Ich war durch das Große und das Kleine Walsertal gewandert bis nach Oberstdorf, hatte nach Sonthofen die Alpen hinter mir gelassen und war mit einigen großen Etappen durch die bayrische Seengegend bis nach München gezogen. Hier hat mich mein ehemaliger Studienkollege schon erwartet, um eine Woche mitzuwandern.

Hermann lebt seit fünf Jahren hier, wo er sich neben der Arbeit gänzlich seiner großen Leidenschaft widmet, der Musik. Der kreative Allrounder spielt wohl an die zehn Instrumente, allem voran ist er ein begnadeter Saxophonist. Seit unserer Studienzeit haben wir nicht mehr gemeinsam musiziert, nun wird ein lang gehegter Traum wahr: einmal als musikalische Vagabunden durch die Gegend zu ziehen. Yeah! Wir packen Gitarre, Saxophon und das Schlauchboot ein und machen uns auf den Weg zum Englischen Garten.

Das Experiment
Die Mittagssonne heizt herunter, als wir unterhalb der großen Isarwehr in See stechen. „Wir sehen aus wie ein Boot von der städtischen Müllabfuhr“, meint Hermann und lacht. Zur Sicherheit haben wir unsere Rucksäcke und Instrumente in große Müllsäcke eingepackt, denn nach Einschätzung des erfahrenen Isar-Seemannes ist die Wahrscheinlichkeit nicht klein, dass wir Schiffbruch erleiden werden. Die große Herausforderung sind die vielen kleinen Wehre mit einer Fallhöhe zwischen einem halben Meter und mehreren Metern. Im Zuge einer Renaturalisierung sind die alten Mauern mit den abrupten Wasserfällen zwar durch weniger steile Wasserrutschen aus Steinen abgelöst worden, das Problem sind jedoch die scharfen Kanten an diesen Stellen.

Gemütlich treiben wir mit der Strömung, genau wie die Flößer im Mittelalter, die auf der Isar Holz und Waren transportierten. Dann kommen die ersten zwei Wehre. Harmlos! So weit so gut. Bei der dritten wird es ernst. Wir müssen das Boot außen herum tragen, aber damit hatten wir gerechnet. Doch schon bei der nächsten gefährlichen Wehr erwischt es uns. Hermann will das Boot am Ufer abfangen, als ein spitzer Ast ein Loch in unser Boot reißt. Pfff.

„Nach Aufbringen des Flickens 24 Stunden warten“, lese ich aus der Reparaturanleitung vor. Feierabend. Aber egal, wir sind in bester Stimmung und nützen den schönen Nachmittag zum Baden und Proben. Lautstark tönt der Niederspannungsrock aus dem Grün der Uferböschung. Es fühlt sich an, als wären wir schon weit gereist, dabei sind wir im Grunde noch mitten im Stadtgebiet.

Das Boot hält wieder dicht, als wir am nächsten Morgen aufbrechen. Wir kommen gut über die ersten paar Wehre (zu Wasser oder zu Land), aber es regnet und auf unserer treibenden Müllinsel wird es zunehmend ungemütlich. So haben wir uns das nicht vorgestellt! Ein scharfer Stein nimmt uns dann die Entscheidung ab: Alle Mann über Bord! Wir geben das Boot endgültig auf und verstecken es unter einer Brücke. Experiment erfolgreich beendet: wir sind vier Kilometer weit gereist.

Vagabunden unterwegs
Tja, dann gehen wir halt zu Fuß weiter. Hermann und ich erleben ein paar abwechslungsreiche Tage auf dem bayrischen Land. Bei Freising stechen wir hinein in die Hollertau, dem weltgrößten Hopfenanbaugebiet der Welt. Auf dem Weg nach Regensburg lernen wir einiges über Weißbier und Gartenzwerge, über Gelsen in Überschwemmungsgebieten, über Da Vinci, Hundertwasser und den Bayrischen Barock oder über die Unwiderstehlichkeit von 34 Siegesgöttinnen. Lange Geschichte. Es ist unwahrscheinlich, auf was man beim Wandern so stößt! Glaubt es mir einfach…

Was uns tagelang fehlt, ist eine gute Gelegenheit für ein Konzert. Doch in Kelheim ist die Zeit reif und wir sind optimal vorbereitet. Bei herbstlicher Nachmittagssonne beschallen wir den Stadtplatz mit unseren Werken. Es ist ein große Freude, Hermann am Sax zu haben. Obwohl wir keinen Hut aufgestellt haben, bringen uns seine virtuosen Soli sogar ein bisschen Geld ein. Auch eine Bierspende gibt es. Ja, selbst kleine Träume umzusetzen macht große Freude. Liebe Kelheimer, wir kommen wieder!

Vom Bayrischen Wald ins Mühlviertel
Ab der schönen geschichtsreichen Stadt Regensburg bin ich wieder allein unterwegs. Es hat mich ganz schön in den Norden getragen, dafür bekomme ich die waldreiche Hügellandschaft des Bayrischen Waldes als Kulisse für den Heimweg. Eines Morgens finde ich Eis auf meinem Vorzelt. Es wird Zeit, nach Hause zu kommen. Beim Dreiländereck wandere ich über die grüne Grenze direkt ins Obere Mühlviertel. Die Sonne freut sich mit mir und lacht, und ich gebe mir ein paar Extratage für eine kleine Ehrenrunde. Auch die Heimat will zu Fuß entdeckt werden. Dann kann ich meine geschätzten Patenkinder Mara, Anna und Carina nicht mehr länger warten lassen. Ich hole sie für die letzten drei Kilometer von Oberneukirchen ab.

Die Mädels kommen mir schreiend mit Willkommensschildern entgegen. „Ich habe dich vermist“, steht auf einem. Ich bin tief gerührt und freue mich unermesslich über unser Wiedersehen. Große Lehrmeister der Liebe sind sie, meine Nichten. Ein schönes Gefühl, ein solches Zuhause zu haben. Gemeinsam wandern wir bis Waxenberg, auch meine Schwester und meine Eltern sind dabei. Ein lustiges und bewegendes Finale!

Aufbruch und Heimkehr
Es fühlt sich noch seltsam an: Ich bin wieder daheim. Langsam trudelt auch die Seele ein und der Kreislauf von Aufbruch und Heimkehr schließt sich. Die vielen Monate, in denen ich alleine unterwegs war, haben mich an den Wert von Familie und Freunden erinnert. Ich habe gelernt, dass es im Leben nur auf die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen ankommt, alles andere ist zweitrangig. Darum freue ich mich schon auf das baldige Teilen von Erfahrungen, Gedanken und Träumen.

Für eine ausführliche Bilanz ist es noch zu früh, aber ein erster Eindruck begleitet die Wiedersehensfreude. In der Welt des Alltags und der Gewohnheiten hat sich scheinbar nichts verändert, während ich mit geschärften Sinnen heimkehre. Ich bin gelassener, offener, vielleicht auch herzlicher geworden. Noch kommen mir manche zwischenmenschliche Umgangsformen hierzulande merkwürdig vor, geprägt von hohem Tempo, von Oberflächlichkeit und fehlendem Humor. Wer schon einmal länger unterwegs war, wird dieses Gefühl sicher kennen. Ich denke, darin liegt der große Lohn des Reisens: durch eine Änderung des Blinkwinkels sehen wir uns selbst und die Zusammenhänge in einem neuen Licht. Es liegt an mir selbst, die Spontaneität, die Lebensfreude und den klaren Kopf von der Wanderung mit nach Hause zu nehmen.

Mut zum Träumen
„Die meisten Menschen fangen viel zu früh an, die wichtigen Dinge im Leben zu spät zu beginnen“, schrieb der geniale polnische Aphoristiker Stanislaw Lec. Warum das wohl so ist? Vielleicht machen wir uns zu wenig Gedanken darüber, was uns wirklich wichtig ist und glücklich macht. Ich bin überzeugt, die Lösung ist gar nicht so kompliziert: Solange wir den Mut aufbringen zu träumen, und solange wir auf unsere innere Stimme vertrauen und ihrem Ruf folgen, werden wir auf dem richtigen Weg sein: um einfach das zu werden, was wir sind.

Ich bin froh, dass ich dem Ruf meiner inneren Stimme gefolgt bin. Kaum zu glauben: ich bin 7000 Kilometer zu Fuß gegangen. Ein Traum – ach, was rede ich – viele Träume sind in Erfüllung gegangen. Und es war gar nicht einmal so schwierig. Was es braucht, ist der Mut loszulassen, sich zu überwinden und die Gewohnheiten zu durchbrechen. Im Probieren steckt eine gewisse Unsicherheit, klar, aber sie ist von entscheidender Bedeutung, denn die Kreativität des Lebens kommt erst dort zur Blüte. „You miss 100% of the shots, you never take“, sagte der kanadische Eishockey-Spieler Wayne Gretzky treffend.

Ich bin auf meiner Wanderschaft mit vielen neuen Ideen und Perspektiven belohnt worden, es hat sich unumkehrbar etwas verändert. Ich habe unterwegs viele Geschichten und Erfahrungen zum Thema „einfach und ökologisch leben“ zusammengetragen. Einiges davon findet ihr in meinen Berichten, manches muss erst langsam reifen bis zur Niederschrift. „Wie sollen wir in Zukunft leben?“, so lautet meine große Frage, mit der ich mich auch weiterhin beschäftigen werde. Im nächsten Jahr wird es dann Vorträge geben, bei der ich meine Einsichten mit Euch teilen werde. Ich freue mich schon darauf.

Es ist alles da
Für die kommende Zeit wünsche ich mir, dass mir das umfassende Grundvertrauen erhalten bleibt, das ich auf der Wanderschaft schöpfen durfte. Aber dazu brauche ich nur den Blick nach innen zu wenden, um mich der wichtigen Dinge entsinnen. Mit großer Dankbarkeit trage ich die Momente in mir, die sich tief und unauslöschlich in meiner Seele verankert haben. Ich kann noch immer spüren, wie die Sonne und das Salz auf meiner Haut brennen, spüren, wie der kalte Regen über mein Gesicht rinnt. Ich höre das nächtliche Flüstern des Windes, wie er sanft durch die Wipfel des Nadelwaldes streift, höre, wie die mächtigen Wellen an der felsigen Klippe empor wandern. Ich schmecke die erlösende Frische des kalten Schluck Wassers, wie er die Heiserkeit des quälenden Durstes vertreibt. Ich sehe den glanzvollen Lichtstrahl, wie er in der ersten Stunde des Morgens die Welt zum Leben erweckt. Ekstase! Ich fühle die ungeheure Demut vor den Abertausenden von Ameisen, wie sie meisterhaft ein Kunstwerk auf den Waldboden zaubern. Und ich spüre die wohlige Wärme einer Umarmung, wie sie alle Schwierigkeiten vergessen macht.

Alle wichtigen Dinge sind da. Ich höre einfach auf die Stimme. Und dann weiß ich, wer ich bin.

Ich wünsche Euch alles Gute,

Reinhold.

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