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Der Reichtum des einfachen Lebens - Tirol, Vorarlberg und Schweiz

Verfasst in Rapperswil, Schweiz, am 11.10.2008

Von Lienz nach Innsbruck und über Vorarlberg in die Schweiz bis an den Zürichersee

Schon zwei Stunden ging es bergauf. Es hatte den ganzen Tag geregnet, nun zog gerade ein Schneeregen mit mir über den Laadpass. Doch plötzlich riss es auf, ein abendlicher Sonnenstrahl drang durch die schwarzen Wolken und spiegelte sich im Wasser. Ich war durchnässt, aber glücklich. Ich hatte wieder ein Zwischenziel erreicht: den Zürichersee.

Seit einem Monat bin ich nun alleine unterwegs. Bis Lienz waren Gregor und ich immer gemeinsam und meist mit Gastwanderern gewandert, und manchmal war das Abstimmen unseres Rhythmus nicht so einfach gewesen. Wir hatten bis Lienz eine äußerst intensive Zeit erlebt, bei der jeder von uns seine Erfahrungen gemacht hatte und neue Einsichten gewonnen hatte. Dann spürte ich, dass der Moment gekommen war, mich einmal alleine auf den Weg zu machen. Bei meinen bisherigen Weitwanderungen war ich noch nie allein unterwegs gewesen, und so freute ich mich auf die neue interessante Herausforderung. Wie würde ich auf mich selbst gestellt zurechtkommen? Wie würden die Abende im Zelt sein? Würde es Spaß machen oder langweilig werden? Ich wollte es herausfinden! Gerade hatte ich ein neues Moleskine-Notizbuch gekauft, und wie immer versetzte es mich in helle Vorfreude, die leeren Seiten bald mit Schätzen anzufüllen.

Begegnung mit dem Jakobsweg
Ich wollte unseren Partner Werner Koch von „Koch Alpin“ kennen lernen, der uns mit Super-Outdoor-Equipment ausgerüstet hatte. So beschloss ich, ab Lienz den Südtiroler Jakobsweg durch das Puster- und Eisacktal und über den Brenner nach Innsbruck einzuschlagen. Umringt von den mächtigen Bergketten rund um Lienz wanderte ich los. Nun konnte ich nach meiner eigenen inneren Uhr wandern: Gehen, wenn die Schritte leicht fielen, rasten, wenn ich müde wurde und übernachten, wo es mir gefiel.

Ich war nur mit einer kleinen Jakobswegbroschüre aufgebrochen. So klopfte ich in Sillian an die Tür vom Dekan Franz Hofmann, von dem ich unterwegs gehört hatte, dass er ein Jakobswegspezialist sei. Er sah meinen Stock, und schon bat er mich ohne Zögern zu sich rein, wir plauderten und tranken Kaffee. Als er hörte, dass ich den Weg bis Sillian schon mehrmals verfehlt hatte, holte er ein Buch mit genauer Route zum Südtiroler Jakobsweg und sagte: „Schick es mir einfach zurück, wenn du in Innsbruck bist“. PERFEKT! Mit diesem Zeichen besiegelte er, dass meine nächste Etappe dieser Teil des Jakobswegs sein würde. Es war die erste schöne Begegnung entlang dieses Weges, und viele sollten folgen.

Hollerröster und Heustadl
Es war später Nachmittag, ich schnaufte vor Anstrengung. Es war der 21. September, genau zwei Monate nach unserem Start in Wien, und ich war auf dem Weg vom Brenner hinab durch das wunderbare Wipptal Richtung Innsbruck. Das Buch von Franz beschrieb den Jakobsweg nur bis zur Grenze am Brenner, nun war ich wieder der Broschüre und den Markierungen ausgeliefert. Ich schwitzte und keuchte, denn der Weg führte hinauf und hinauf, und kein Schild in Sicht, das den Weg anzeigte. Doch dann, endlich wieder eine Muschel! Bald führte der Weg wieder abwärts und ich kam in ein kleines Waldstück entlang eines Baches. Die Sonne strahlte durch die Wipfel auf die kleine Lichtung, und sofort wurde meine Stimmung besser angesichts dieses Geschenks. Ich besuchte das Waldklo und stürzte mich in den erfrischenden Bach. Was für ein SEGEN! Frisch wie ein Fühlings-Gervais wanderte ich weiter. Bei einem Bauernhof fragte mich eine Frau, ob ich ein Pilger wäre. Wir plauderten ein bisschen und sie lud mich auf ein Bier ein. Hari, 15 Jahre alt und der Jungbauer, leistete mir Gesellschaft und sofort verstanden wir uns prächtig. „Warum bleibst du heute nicht bei uns?“, fragte er mich. Und so machten wir gemeinsam Holz, aßen am Abend „Moschtbeernocken“ und Hollerröster (mit Holler, den ich im Überfluss bei der Kapelle in Mauern gefunden hatte), teilten uns eine Schoki von Zotter als Nachspeise und schliefen gemeinsam im Heustadel. WUNDERBAR!

Der alte Gott
Kurz vor Bludenz, nach einem traumhaften Tag, an dem ich vom Arlberg herab durchs Klostertal wanderte, führte mich mein Weg durch Braz. Eine alte Frau kam mir entgegen, und wollte wissen, wohin ich denn ginge. Ich erklärte, dass ich auf Wanderschaft sei und zu Fuß nach Spanien wollte. Sie fragte:“Warum?“ Ich sagte: „Weil ich das einfache Leben kennen lernen möchte.“ Sie fragte weiter: „Warum?“ Ich antwortete: „Weil ich glaube, dass ich zu einem glücklichen Leben nicht viel brauche und das Wesentliche im Leben nicht das Materielle ist“. Sie verstand, und es kamen Tränen in ihre Augen. Da nahm sie meine Hand und sagte: “Ich hab es immer gewusst, der alte Gott lebt noch!“ Wir verabschiedeten uns lange und herzlich wie alte Freunde und wünschten uns alles Gute. Als ich dann weiter wanderte, dachte ich über den Satz nach und nochmals ergriff mich seine Wirkung. Ja, dachte ich, genau so ist es! Der alte Gott lebt noch in uns! Meistens werden wir zwar von den vielen Dingen um uns herum und durch die Geschwindigkeit des heutigen Lebens abgelenkt, aber in manchen stillen und bewussten Augenblicken erkennen wir das Wesentliche, wenn wir in uns hineinhören. Dann spüren wir diese unglaubliche Kraft, die uns Menschen untereinander und mit der Erde verbindet.

Uns in Bewegung setzen
Vor kurzem las ich auf einem Poster einer Religionsgemeinschaft: „Es ist besser, Gott zu vertrauen, als sich auf Menschen zu verlassen.“ Ich glaube nicht, dass das eine ohne das andere möglich ist. Wir müssen unser Misstrauen in andere überwinden, denn nur so wird unser eigener Geist frei für seine Entfaltung. René Egli schreibt im Lola-Prinzip: „Angst ist ein Problem der menschlichen Unsicherheit. Unsicherheit ist das mangelnde Vertrauen in sich selbst und der Welt. Angst führt dazu, dass wir uns an Dogmen, an Urteilen, an Glaubenssystemen, an einem bestimmten Menschen festhalten. Wir glauben, diese gäben uns Sicherheit, Identität und Orientierung. Die Folge davon ist gravierend: Durch das Festhalten blockieren wir das Leben, wir blockieren unsere eigene Entwicklung. Was man festhält, kann sich nicht mehr bewegen. Was sich nicht mehr bewegt, stirbt“. Also, warum setzen wir uns nicht einfach in Bewegung und übernehmen die volle Verantwortung für uns selbst und unsere Umwelt? Setzen wir uns einfach hinweg über den Satz „Ich kann eh nix tun“ und ergreifen die Initiative!

Verantwortung spüren
Ich habe im letzten Monat viel gelernt. Erst jetzt, wo ich ohne Gregor unterwegs bin, ist mir meine persönliche Verantwortung richtig bewusst geworden. Ich höre mehr und mehr auf mein Herz und meine Intuition und lasse mich von ihnen führen. Mit jedem Schritt wachsen die Kraft und das Vertrauen in mich selbst. Die Begegnungen mit den Menschen am Weg bestätigen meinen Optimismus und mein Vertrauen. Keinen Augenblick hatte ich Angst, keinen Augenblick hatte ich Langeweile. Nicht eine negative Erfahrung. Meine Augen und mein Herz haben sich geöffnet für die schönen und positiven Dinge. Mein Geist ist frei geworden. Mein Denken und meine Vision bestimmen mein Schicksal. Jemand hat es in der Nähe von Innsbruck auf ein Holzschild geschnitzt:

Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.

Bis Rapperswil am Zürichersee bin ich bis jetzt gewandert, von wo es nun weitergeht Richtung Genf und später Lyon. Es ist ein eindrucksvoller Herbst da draußen: die dichten Laubwälder ändern ihre Farbe so rasch, dass man jeden Tag die Unterschiede merkt, und die Wolkenstimmungen spielen ein Drama zwischen Himmel und Erde. Wie bei den Jahreszeiten folgt eins dem anderen: Zuweilen ist das Wandern anstrengend, doch das Ruhen im Zelt danach ist umso schöner und mein Schlaf umso tiefer. Zuweilen ist ein Tag ereignislos, doch eine Begegnung am nächsten Tag ist umso intensiver. Zuweilen ist es nass und kalt, doch der Sonnenschein danach ist umso kraftvoller. Es ist wunderbar, diese Kreisläufe zu spüren, ich bin wieder ein Teil davon. Es ist der Reichtum des einfachen Lebens.

Euer Reinhold.

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