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Die Uhren ticken anders - Quer durch Marokko

Verfasst in Tanger, Marokko, am 21.06.2010

1200km durch Marokko: von Mhamid am Rand der Sahara bis Tanger

Zeit ist eine Erfindung des Menschen, Leben eine Erfindung des Universums. Sergio Bambaren

Das Boot schaukelt immer noch wild, als ich nach wenigen Stunden Schlaf auf der Eckbank aufwache. Es dämmert bereits, und neugierig krabble ich die Luke hoch an Deck. Kapitän Brice sitzt am Steuer und hält auf den Sonnenaufgang zu. Geblendet suchen meine Augen den Horizont nach ersten Landzeichen ab. Lange trügt der Schein, aber dann zeichnen sich immer deutlichere Konturen ab. "Afrika!", rufe ich grinsend in den Wind, während mein Körper Adrenalin ins Blut pumpt. Vor uns liegt die marokkanische Küste, unser Ziel ist Tarfaya. Hier am Rand der Westsahara war einst der kleine Flugplatz, auf dem Antoine de Saint-Exupéry 18 Monate lang stationiert war. Damals gab es hier nicht viel mehr als den Blechschuppen, in dem er die meiste Zeit damit verbrachte, auf das nächste Postflugzeug zu warten. Vor allem lernte er an diesem einsamen Ort aber die Stille der Wüste kennen, die ihn zu vielen seiner Bücher inspirierte.

Bis heute hat Tarfaya mit seinen 4000 Einwohnern seinen Wüstencharme erhalten. In dem beschaulichen Hafen gehen wir vor Anker. Wir sind das einzige Segelboot neben einer ganzen Armada von Fischerkuttern. Es ist ruhig an diesem Morgen, nur ein paar Fischer putzen am Pier ihre Netze. Bald erscheint ein Zollbeamter, der uns mit seiner Trillerpfeife zu verstehen gibt, dass es Zeit sei, für eine Kontrolle an Land zu kommen. Brice und ich rudern mit dem Schlauchboot zur Hafenmauer und klettern eine vom Rost zerfressene Leiter hinauf. Das ist er, mein erster Kontakt mit Afrika! Der junge Beamte begrüßt uns freundlich mit einem lauten "Salam Alaykoum" und einem kräftigen Händedruck. In seiner Blechhütte warten wir folgsam, bis alle Autoritäten nach und nach eintreffen: Polizei, Königliche Gendarmerie, Hafenbehörde und Medizinische Inspektion. Ich merke sofort: die Uhren ticken anders hier. Zwei Stunden später haben wir alle Formalitäten hinter uns, der Stempel ist im Pass und ich darf einreisen.

Bereit für Afrika
Ich fühle mich unbehaglich auf meiner ersten Erkundungstour an Land. Ich habe Angst vor dem Unbekannten. Ein neues Land, eine neue Kultur, ein neuer Kontinent. Was mich wohl hier erwarten wird? Aber ich weiß, dass ich nur dann Antworten finden werde, wenn ich mich voll auf die neuen Herausforderungen einlasse.

Heißer Wind trägt den Sand aus der Wüste ins Dorf, ganze Straßenzüge werden langsam von den Dünen begraben. Asphaltiert ist nur die Hauptstraße, auf der sich alles Dorfleben abspielt. Staunend lasse ich die Eindrücke auf mich wirken: Männer in weißen und blauen Umhängen, die in den Cafés im Schatten hocken und Tee trinken, verschleierte Frauen, die den Einkauf vom Markt nach Hause bringen, Kinder, die auf den staubigen Seitenstraßen Fußball spielen, und streunende Hunde und Katzen, die im Müll wühlen, der so gut wie überall auf der Straße zurückgelassen wurde. Eines wird mir sofort klar: hier gibt es viel Neues zu erleben. Der Entdeckergeist löst mein Unbehagen ab. Ich bin bereit. Bereit für Afrika!

Weil man hier in der Westsahara zu Fuß schlecht weiter kommt, will ich den Bus nach M'hamid an die algerische Grenze nehmen. Von dort startet die bekannte Route nach Timbuktu, auf der man mit der Karawane in 52 Tagen die Wüste durchqueren kann. Aber ich will in Richtung Norden wandern. Auf dem letzten Stück von Zagora nach M'hamid lerne ich den marokkanischen Überlandverkehr kennen: Sammeltaxis. Das sind entweder "Grand Taxis", große alte Mercedesschlitten für sechs Passagier plus Fahrer (vier auf der Rückbank, zwei am Beifahrersitz), oder "Minibusse" mit 14 Sitzplätzen.

Geduldiges Wüstenvolk
Am Taxistand neben dem Markt in Zagora ist am Nachmittag viel los, denn es ist Sonntag, und Sonntag ist Markttag. Kreuz und quer stehen die Grand Taxis und Minibusse und laden Waren und Menschen auf. "M'hamid, M'hamid?", ruft mir jemand fragend zu. Wenig später schnallen wir meinen Rucksack aufs Dach eines Minibusses. Wir verhandeln den Fahrpreis und dann heißt es warten, weil wir noch nicht voll sind. Geduldig sitzen die Passagiere im Bus oder im Schatten, es dauert über eine Stunde, bis es losgeht. Der Fahrer spritzt vorsichtshalber noch zwei Flaschen Wasser über den Motor, dann fahren wir zur Tankstelle und kaufen mit dem eingesammelten Geld Benzin. Auf dem Weg aus der Stadt halten wir einen entgegenkommenden Minibus auf, uns fehlt nämlich noch das wichtigste: der MP3-Player, den wir uns für die Fahrt ausborgen. Grinsend sitze ich in der zweiten Reihe und lasse das musikalische Gewitter über mich ergehen. An den einheimischen „Rock“ muss ich mich erst gewöhnen...

Zwar erscheint die Wüstenlandschaft der folgenden 90 Kilometer leer und verlassen, doch steigen an allen möglichen Stellen Leute ein und aus. Unser Fahrer ist entweder gutmütig oder geschäftstüchtig, jedenfalls laden wir unterwegs die halbe Wüste auf. Kurz vor M'hamid zähle ich 30 Leute in dem 14-Sitzer, aber es gibt kein Raunzen oder Murren, denn das ist marokkanischer Alltag. Kaum jemand kann sich in Marokko ein Privatauto leisten, nur ganz selten sehe ich bei meiner Wanderung ein Auto mit nur einer Person darin. Staus gibt es hier jedenfalls keine. Eine sehr effiziente Sache also, dieser Sammeltaxi-Verkehr. Alles, was man dazu braucht, ist ein bisschen Zeit und Geduld. Beides gibt es hier im Überfluss.

Erster Tag, erster Tee
Trotzdem bleiben meine Waldviertler-Schuhe das Transportmittel meiner Wahl. Und so starte ich tags darauf meine Wanderung nach Norden. Obwohl es erst Anfang April ist, klettert das Thermometer bereits in den Saunabereich. Zudem gesellt sich ein mittlerer Sandsturm zu meinem Start. Aber ich genieße das unglaubliche Gefühl des Aufbruchs,  um dieses faszinierende Land zu erkunden. Bei den Sanddünen von Erg Lihoudi schlage ich mein Zelt für die erste Nacht auf. In der Nähe befindet sich ein Camp aus ein paar Berberzelten für Touristengruppen. Es wirkt verlassen, doch plötzlich taucht ein Bursche mit zwei Dromedaren auf und kommt auf mich zu. Ich befürchte schon, Unmut erregt zu haben, doch ganz im Gegenteil werde ich herzlich begrüßt und eingeladen. Der junge Ali stammt aus einer Familie von Tuareg-Nomaden, was an seiner hellbauen „Dschellaba“, dem typischen knöchellangen Umhang, zu erkennen ist. In dem mit Decken und Teppichen ausgelegten Zelt hocken wir gut geschützt vor Sonne und Wind und schlürfen zuckerreichen Minztee, das Nationalgetränk Marokkos. Ich freue mich über meine erste Einladung zum Tee und das gleich am ersten Wandertag. Spitze!

Überwältigende Gastfreundschaft
Viele, viele Einladungen folgen in den nächsten Wochen auf dem Weg durch den Süden des Landes: Ich wandere durch trockene Steppenlandschaften bis Tazzarine, dann über die Bergkette des "Dschebel Sahro" hinauf bis nach Tinerhir und von dort durch die Todhra- und die Dades-Schlucht. Die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft der Menschen beindrucken mich tief. Überall werde ich freundlich willkommen geheißen und oft werde ich ins Haus gebeten. Immer gibt es Tee, oft auch Brot und Oliven, manchmal ein ganzes Menü mit Couscous und Salat. Nicht selten bin ich tief bewegt, denn es sind gerade die Menschen in den ärmsten Dörfern, die am meisten geben.

In den touristischeren Gegenden kann es natürlich passieren, dass eine Einladung mit dem Hintergedanken erfolgt, ein Geschäft mit mir anzubahnen. In Amesker, einem kleinen Dorf an der Südflanke des Hohen Atlas, lädt mich einmal ein Mann zum Tee ein und möchte mich dann drängend überreden, eines seiner Maultiere zu mieten. Er nimmt es mir schlussendlich aber gar nicht so übel, als ich höflich ablehne. Und mit der Zeit entwickle ich ein gutes Gespür für solche "Fallen".

Streifzug durch die Vergangenheit
In den Bergen des Hohen und Mittleren Atlas fühle ich mich in eine andere Zeit versetzt. In vielen Tälern gibt es höchstens Sandpisten. Durch viele Dörfer führen überhaupt nur Maultierpfade. Die Menschen arbeiten mit den bloßen Händen auf ihren Feldern, Traktoren gibt es nirgendwo. Gepflügt wird mit Maultieren und Holzpflug, geerntet mit der Sichel. Unzählige Schaf- und Ziegenherden weiden auf den Hängen, immer in Begleitung von Hirten. Oft müssen sich Kinder um die Schafe und Ziegen kümmern, viele lernen weder lesen noch schreiben. Es gibt so gut wie keine medizinische Versorgung, immer wieder werde ich nach Medikamenten gefragt.

Das Leben ist einfach und arbeitsreich, mit dem die Menschen hier ihre Existenz bestreiten. Eine Wirtschaftskrise scheint niemanden zu interessieren, wichtiger ist, ob es in diesem Jahr genügend Wasser gibt. Obwohl: so manche Familie hängt von den monatlichen Überweisungen aus Europa ab. Wenn der ausgewanderte Sohn dort aufgrund der Krise seine – meist illegale – Arbeit  verliert, schaut es nicht gut aus.

Wahre Abenteurer
Einen dieser Auswanderer lerne ich in Khénifra kennen. Mohammed war 21, als er mit dem Schlepperboot nach Spanien übersetzte. 2000 Euro, fast ein Jahreseinkommen, musste seine Familie dafür aufbringen. Beim ersten Mal wurde das Boot am Strand von Almeria erwischt, beim zweiten Versuch klappte es. Vier Jahre lang schlug er sich in Spanien durch, arbeitete bei der Orangenernte und am Bau in Valencia, ohne Versicherung und ohne Pass. Vier lange Jahre sah er seine Familie nicht, während er erfolglos versuchte, an eine Aufenthaltsgenehmigung zu kommen. Dafür wurden ihm nochmals insgesamt 6000 Euro abgeknöpft, von Leuten, von denen er mir nicht erzählen will.

Letztes Jahr kam Mohammed desillusioniert zurück, der europäische Traum vom Paradies hat sich für ihn ausgeträumt. „Zurück nach Europa? Niemals! Nicht mit und nicht ohne Papiere“, lacht er heute. Seinen Humor hat er nicht verloren, auch wenn er jetzt in Khénifra jeden Tag 15 Stunden in seinem neuen kleinen Geschäft stehen muss, um über die Runden zu kommen. „Hier bin ich wenigstens mein eigener Chef und wohne umsonst gemeinsam mit meiner Familie.“

Übrigens: Es wird geschätzt, dass an die 10% der gesamten Wirtschaftsleistung in der EU mit illegaler Arbeit von Einwanderern erwirtschaftet wird. Der Dank dafür ist eine heuchlerische Kriminalisierung der „Illegalen“ von Seiten der Politik, eine allgemeine öffentliche Feindseligkeit sowie Zäune und Kanonenboote am Mittelmeer. Tja, wer also das nächste Mal Orangen aus Valencia im Angebot kauft, der weiß jetzt, wer sie gepflückt hat.

Arabischer Mittelalter-Flair in Fes
Orangen gibt es im Mittleren Atlas keine, dafür aber viele kleine Seen und herrliche Zedernwälder, die dem bergigen Gelände seinen eigentümlichen Reiz geben. Die Wanderung verlangt mir einiges ab, aber dann erreiche ich die Königsstadt Fes. Die "Medina", die eng verwinkelte Altstadt mit angeblich 10.000 Gassen, begeistert mich mit orientalischer Baukunst und bunten Basaren und lässt mich wieder durch vergangene Zeiten reisen. Besonders beeindrucken mich die mächtigen Tore, durch die man in die, von der Stadtmauer umgebene, Altstadt kommt. Hier hat sich in 300 Jahren nicht viel verändert: Fußgänger, Reiter oder Fuhrleute mit Hand- und Eselskarren zwängen sich geschäftig hindurch, nur die Mopeds kommen heutzutage noch dazu.

Zu meiner Freude ist Isabelle gekommen, eine Schweizerin, die mit dem Fahrrad um die Welt reist. Wir haben uns auf den Kanaren kennen gelernt. Gemeinsam lassen wir uns zwei Tage lang durch die "Suks", die fantastischen Märkte, treiben. Hier gibt es einfach alles: vom lebenden Gockel bis zum Flachbildfernseher. Was für ein Fest der Sinne: es riecht nach Gewürzen, nach Fisch, nach den genialen marokkanischen Palatschinken "Mhsshmhn" oder nach Urin. Hier gibt es alle Arten von Handwerk: vom Tischler zum Töpfer, vom Korbflechter zum Keramiker, vom Schuster zum Schmied. Wie armselig und fantasielos sind da im Vergleich unsere sterilen Einkaufszentren! Hier kann ich meine Hose flicken, das Schweizermesser schleifen und meine Gewürzbatterie nachfüllen lassen – und das alles um die Ecke. Außerdem finde ich hier die besten Oliven der Welt - nicht so einen Kinderkram, den es bei uns gibt, sondern echte hausgemachte Oliven, so erbarmungslos herb und pikant wie der Charme einer ukrainischen Gewichtheberin.

Der Wert des Menschen
Auf dem Weg nach Tanger wird es wieder richtig heiß, denn Anfang Juni erreicht die Hitze des Sommers auch den Norden des Landes. Im Rif-Gebirge atme ich nochmals das gelassene marokkanische Landleben ein, außerdem den Geruch der Hanffelder, denn hier ist industrielle Großproduktion für Europa angesagt. Nach mehr als 1200 Kilometer komme ich an den Strand von Tanger, wo es mich richtig packt. Wieder einmal spüre ich eine unbeschreibliche Freude und Dankbarkeit. Noch kann ich es nicht ganz glauben, dass ich es tatsächlich geschafft habe.

"Wer nicht reist, kennt den Wert des Menschen nicht", schrieb Ibn Battuta, der große Weltreisende des arabischen Mittellalters. Er stammte von hier aus Tanger. Was im Jahre 1325 mit einer Pilgerfahrt nach Mekka begann, wurde eine 29 Jahre dauernde und 120.000km lange Weltreise, die den adeligen Gelehrten bis nach Indien und China führte. Mit Schiffen, Kutschen und Kamelen bereiste er an die 50 Länder der heutigen Welt. Er wurde überfallen und ausgeraubt, erlitt Schiffbruch im indischen Ozean, verlor seinen ganzen Besitz, heiratete sechs Mal, um sich ebenso oft wieder scheiden zu lassen, und wurde Botschafter in Delhi. Was für ein Trip! Und ich verliere die Geduld, weil ich binnen zwei Wochen kein Boot gen Westen finde. Ha ha ha!

Ohne Zweifel hat Marokko bisher die tiefsten Spuren in meiner Seele hinterlassen. Ich habe viel über Armut gelernt, über die Würde der Menschen, über zwischenmenschliche Herzlichkeit und über die alte Tradition der Gastfreundschaft. Es gibt eine Zwischenmenschlichkeit in Marokko, von der wir uns in Europa etwas abschauen können. Das mag vielleicht daran liegen, dass Familie und religiöse Tradition hier einen hohen Stellenwert haben, aber der entscheidende Punkt ist schlicht und einfach: die Menschen nehmen sich mehr Zeit für einander. Immer ist Zeit für ein kleines Gespräch, Zeit, um dem anderen zuzuhören, immer ist Zeit für eine Tasse Tee. Ich bin froh, dass mich mein Weg hierher geführt hat, um etwas über diese andere Lebensart und dieses andere Zeitgefühl lernen zu können. Eine aufschlussreiche und eingehende Erfahrung, denn eines ist gewiss: die Uhren ticken anders in Marokko.

Euer Reinhold.

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