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Von Geistlichen und Gottlosen, von Gauklern und Geisterdörfern - Am Jakobsweg I

Verfasst in Leon, España, am 02.11.2009

Am Jakobsweg von Le Puy, Frankreich bis Léon, Spanien

„Euer Sohn ist so tot wie die Brathühner auf meinem Teller“, rief der Richter, der den jungen Mann zum Tode verurteilt und hängen lassen hatte. Noch während er sprach, erhoben sich die Tiere mit lautem Krähen. Da glaubte er den Eltern, dass sie bei ihrer Rückkehr aus Santiago ihren unschuldig gehängten Sohn lebend vorgefunden hatten. So wird die Geschichte über die berühmteste Wundertat des „Santo Domingo de la Calzada“ überlieftert. Und noch heute werden zur Erinnerung zwei Hühner in der örtlichen Kirche gehalten.

Blumige Legenden, aussergewöhnliche Persönlichkeiten und jede Menge Kunstgeschichte pflastern den Jakobsweg, auf dem ich in den letzten Wochen unterwegs war. Meine Wanderung führte mich entlang der klassischen Hauptroute „Camino Francés“ von Le Puy nach Santiago. Ich wanderte durch die abwechslungsreiche Gegend des französischen Zentralmassivs hinunter bis nach St. Pied de Port am nördlichen Rand der Pyrenäen. Nach der Bergetappe erwartete mich die spanische Provinz Navarra mit weiten herbstlich-braunen Ackerflächen. Überraschend schnell ließ ich Pamplona hinter mir, durchwanderte die Weinberge der Provinz La Rioja und erreichte bald die kastillische Stadt Burgos. Dann durchquerte ich auf langen flachen Geraden die steppenartige Landschaft der „Meseta“ bis nach Léon. Von hier fehlen nur noch 300km bis Santiago, aber es zahlt sich aus, in der kastillischen Hauptstadt ein paar Tage zu pausieren.

Genau fünfzig Tage bin ich unterwegs seit Le Puy. Ein guter Moment, um ein paar Zeilen für Euch zu schreiben und mit einem guten „Vino tinto“ anzustossen. Nach den Schwierigkeiten des heurigen Sommers mit der Lungenentzündung freue ich mich doppelt, dass ich gesund und munter durch Frankreich und Spanien unterwegs sein darf.

Wegkreuzungen
Unterwegs hab ich ein paar Mal darüber nachgesinnt, wie anders sich wohl der ganze Sommer und Herbst entwickelt hätte, wenn ich nicht krank geworden wäre; welche anderen Wege ich eingeschlagen hätte, welche anderen Menschen ich getroffen hätte und welche anderen Abenteuer ich erlebt hätte. Mir ist deutlich bewusst geworden, wie sehr das Leben von den winzigen Augenblicken, Begegnungen und Schicksalsmomenten abhängt. Vielleicht spielt der Zufall eine grosse Rolle. Aber entscheiden in Wirklichkeit nicht unsere Gedanken und Worte, unsere Gefühle und unsere Intuition in jeder einzelnen Sekunde?

Ich bin mehr als glücklich über den Verlauf der Dinge, denn viel Positives entstand während des Österreichaufenthalts: der Artikel über Wachstumskritik, die FM4- Radiosendung oder das Niederspannung s-Rock´n´Roll-Projekt. Ausserdem nutzte ich ausgiebig die Gelegenheit, mit meinen Patenkindern Mara, Anna und Carina herumzutollen, was uns alle sehr freute. Ja, und viel Freude bereitete mir jetzt auch das Wetter bisher am Jakobsweg, denn es regnete nur fünf Tage. Ein grosses Geschenk!

Wie im Mittelalter - Ein buntes Volk unterwegs
Wie ihr wisst, ist die Tradition der Pilgerschaft nach Santiago über tausend Jahre alt und das regt zum Träumen über vergangene Zeiten an. Wenn ich so durch manches gut erhaltene Mittelalterdorf ziehe, vorbei an Kathedralen, Klöstern und Hospizen, vorbei an den Statuen von den Heiligen oder über die alten Brücken der zahlreichen Flüsse, dann kann ich mir gut ausmalen, wie der Weg wohl für die vielen hunderttausend Pilger des Mittelalters ausgesehen haben mag.

„Die Landstraße war ein Ort der – beglückenden, belustigenden, beunruhigenden, beängstigenden – Begegnungen“, so beschreibt Ulrich Grober (in seinem geistreichen Buch „Vom Wandern“) die mittelalterlichen Verkehrswege. Unterwegs „war das bunte Volk der bäuerlichen Wanderarbeiter und Schnitter, Hausierer und Zigeuner, Gaukler und Musikanten. Dazu die Heerscharen der Heimatlosen und Entwurzelten: Landstreicher, Prostituierte, Deserteure und entlassene Soldaten, Bettler.“ Die Wanderwege deckten sich mit den Routen der Kaufleute und Fuhrleute, der Studenten und jungen Adeligen auf Bildungsreise und der Angehörigen der Oberschichten auf Pferden und in Kutschen.

Bunt ist jedenfalls auch im 21. Jahrhundert das Volk am Jakobsweg. Über 125.000 PilgerInnen aus aller Welt registrierte das Erzbistum von Santiago letztes Jahr, die zu Fuss, mit Pferd, Esel, Fahrrad oder mit dem Bus das Apostelgrab besuchten. So unterschiedlich wie die Herkunft, das Alter und die Beweggründe der Menschen sind auch die Erfahrungen, die ein jeder auf seinem persönlichen Weg macht. Hier ist meine eigene Geschichte von Geistlichen und Gottlosen, von Gauklern und Geisterdörfern.

Mönche und Musik in Conques
Es ist halb zehn am Abend in Conques. Ich war mittags eingetroffen und hatte statt dem Zelt ausnahmsweise ein Bett in der Klosterherberge bezogen, um den historischen Flair dieses bekannten französischen Pilgerorts zu spüren. Ich freute mich über die Freundlichkeit und den Kaffee, mit der die freiwilligen HerbergsbetreuerInnen mich und die anderen PilgerInnen empfangen hatten. Spontan war ich der Einladung zur abendlichen Segnung gefolgt, bei der einer der Benediktinermönche die Geschichte und die Kunstwerke des berühmten Klosters aus dem 12. Jahrhundert erklärte. Nun ist bis 10 Uhr ein Orgelkonzert angesagt, und ich sitze neben der Orgel, an der der Mönch jetzt Platz genommen hat. Unter uns das mächtige Hauptschiff der romanischen Klosterkirche. Mindestens so bestechend wie die Grösse ist seine Schlichtheit. Die neu gestalteten modernen Fenster entfalten erst jetzt ihre Wirkung. Untertags wirkten sie langweilig grau, nun zeigen sie die Absicht ihres Schöpfers. Sie brechen funkelnd das Licht der Strassenlaternen draussen und hüllen die Säulen und Bögen in ein merkwürdiges Orange.

Der Mönch spielt ein paar klassische Stücke, das Konzert wirkt eher wie ein lockeres Improvisieren. Noten braucht er dafür keine, denn wahrscheinlich gibt er die Show täglich. Aber er macht seine Sache gut. Wirklich überrascht bin ich gegen Ende, als er ein fettes „House of the Rising Sun“ anstimmt. Fast ein bisschen anrüchig, dieses Lied in einer Kirche, denke ich. Und während er beim Solo im wahrsten Sinne des Wortes alle Register zieht, segelt ein Vogel majestetisch durchs Gewölbe. Ein besonderer Moment, magisch! Mit dem „1492“-Thema von Vangelis legt er noch einen drauf, spielt lässig mit der rechten Hand und den Füssen weiter, während er mehrmals auf die Uhr an der linken schaut. Noch bevor die Glocke das zehnte Mal schlägt, ist das Konzert zu Ende. Die Arbeit ist für heute getan, morgen kommen wieder neue PilgerInnen. Feierabend.

Gottlosigkeit in Navarra
Die mittelalterlichen PilgerInnen müssen wohl auch über die enorme Kirche gestaunt haben, die sie in dem kleinen Dorf Conques vorfanden. Es war eine der Pflichtstationen, die auf dem Weg nach Santiago zu besuchen waren. So steht es in dem berühmten „Liber Sancti Jakobi“ aus dem 12. Jahrhundert. Dieser erste Pilgerführer führt detailliert die zu besuchenden Reliquien auf, überliefert Sagen und Legenden und beinhaltet allerlei praktische Informationen. Als Verfasser gilt der französische Mönch Aimeric Picaud. Ein Spanier war es jedenfalls nicht, davon zeugen die vielen Vorurteile gegenüber den Iberiern. Meine Lieblingstextstelle (Originalwortlaut!) über Basken und Navarreser ist ein gutes Beispiel für die Würze:

„Wenn man sie essen sieht, glaubt man, fressende Hunde oder Schweine vor sich zu haben. Wenn man sie reden hört, erinnert es an Hundegebell. (..) Es ist ein barbarisches Volk, das sich von allen Völkern in Gebräuchen und Wesen unterscheidet, voller Bosheit, von schwarzer Farbe, unansehnlich, verucht, schurkisch, falsch, treulos und korrupt, wollüstig, trunksüchtig, erfahren in Gewalttätigkeiten, unerschrocken und wild, unehrlich und verlogen, gottlos und von rauhen Sitten, grausam und streitsüchtig, kurzum zu jeglichem Guten unfähig, aber Lastern und der Sündhaftigkeit aufgeschlossen. (...) Die Navarreser pflegen mit ihrem Vieh Unzucht zu treiben; man sagt, ein Navarreser hänge ein Schloß an das Hinterteil seines Maultieres und Pferdes, damit kein anderer als er selbst zu ihm Zugang habe.“

Tja, das hebte meine Vorfreude, als ich von St. Pied de Port über die Pyrenäen nach Navarra zog. Ich bin sicher, dass die meisten MittelalterpilgerInnen schlussendlich so positiv beeindruckt waren wie ich. Vielleicht muss man den Basken und Navarresern auch heute noch eine gewisse eigenwillige Seite zugestehen, aber unfreundliche Monster sind sie nicht. Das gleiche trifft ja auch auf uns Mühlviertler zu. :-) Nun, ich traf keinen einzigen lasterhaften Schurken und leider auch keine einzige wollüstige Wilde auf dem Weg durch Navarra, aber immerhin begegnete ich einer Gruppe von Gauklern, und zwar in Pamplona.

Gaukler in Pamplona
Der Samstagvormittag ist bewölkt in der navarresischen Hauptstadt, trotzdem ist viel los in den Altstadtgassen. Gemeinsam mit zwei anderen Pilgern komme ich gerade vom Bioladen, wo wir uns mit gutem Proviant für die weitere Reise eingedeckt haben. Wir sind wieder einmal unterwegs zur Kathedrale, als uns zwei andere Pilger entgegenkommen. „Buen camino“, wünschen sie uns im Vorbeigehen, einer kommt mir merkwürdig bekannt vor. Es dauert etwa drei Sekunden, bis mein Gehirn die notwendigen Informationen zusammenholt. Irgendwann irgendwo hatte ich gelesen, dass zur Zeit ein Film am Jokobsweg gedreht wird. Ja, genau, jetzt fällts mir wieder ein. „Martin Sheen, das war gerade Martin Sheen!“, rufe ich und haste den beiden nach. Und tatsächlich: Am „Plaza Consistorial“ ist bereits das Kamerateam installiert für eine Aussenaufnahme. Ich will nur schnell ein Foto machen, da fragt mich der Assistent, ob ich nicht mitspielen möchte. „Na klar“, sage ich und freue mich wieder einmal strahlend, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und so spazieren wir insgesamt vier Mal über den abgesperrten Platz, bis die Szene im Kasten ist. Mann, der Regisseur Emilio Estevez kann froh sein, gratis an einen so guten Pilger zu kommen, um seinen Film aufzuwerten...:-) Also mein Filmtipp für das kommende Jahr: „The Way“. Und dann genau auf den sympathischen Typ mit dem grossen Rucksack in der schwarzen Regenhülle achten!

Pilgerversorgung im Geisterdorf
Aber von den Gauklern nun zu jenen, die sich furchtlos um die Versorgung der Pilger in abgelegenen Gegenden kümmern. Einer der berühmtesten Hospizgründer in der Geschichte war Domingo de Viloria, nach ihm ist die Stadt „Santo Domingo de la Calzada“ benannt. Er schlug im 12. Jahrhundert eigenhändig einen Weg in den dichten Wald und baute eine Brücke über den Rio Oja. Auch ich ging auf seiner Strasse, der heutigen „Calle Mayor“. So wie sich der gute Domingo mit grossem Einsatz und Charisma für die Betreuung der Pilger im Mittelalter einsetzte, so gibt es auch heute Menschen, die dem Ruf folgen und zu „Hospitaleros“ werden. Einem begegnete ich „zufällig“ gleich ums Eck von Santo Domingo, in Cirueña, dem Geisterdorf.

Es ist später Nachmittag. Müde wandere ich im blendenden Sonnenlicht auf dem Feldweg dahin. Ich halte Ausschau nach einem guten Lagerplatz für die Nacht, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich noch etwas weitergehen muss. Und siehe da, plötzlich kommt mir ein Spaziergänger entgegen. Ich frage ihn, ob es passt, wenn ich hier neben dem kleinen Teich das Zelt aufschlage. Aber er meint: „Warum kommst du nicht mit rauf nach Cirueña? Ich bin selbst Hospitalero!“ Und da ich an diesem Samstag Abend Mitte Oktober der einzige Pilger bin, lädt mich Pedro-Mari nicht nur umsonst zum Schlafen in seine Herberge ein, sondern auch zum Abendessen und Frühstück! Perfekt, ich freue mich riesig über diese Überraschung und wir verbringen einen schönen Abend gemeinsam.

Mein Gastgeber erzählt mir, dass er den Jakobsweg drei Mal gegangen sei, bevor er selbst diese kleine Herberge aufmachte. Es sei eigentlich ein Geisterdorf hier, nur 25 Leute lebten das ganze Jahr hier und die alten Häuser verfielen sichtbar. Aber hatte ich da nicht jede Menge neuer Wohnhäuser gesehen, als wir ankamen? Ja, 400 Wohnungen hat man in den letzten Jahren gebaut, aber 300 wurden nie bezogen. Jetzt fällt bei mir der Groschen: darum auch der Golfplatz am Dorfrand! Es passt alles zusammen: ein klassisches Beispiel von Immobilienspekulation und ihre traurigen Auswirkungen. Spanien hat ja ordentlich mitgemischt beim Bauboom. Heute will niemand in den reizlosen Reihenhäusern wohnen, Verkaufsschilder hängen an jedem Haus, aber die Eigentümer bleiben auf den Wohungen sitzen. Naja, irgendjemand wird wohl Geld damit verdient haben.

Mit Freude am Weg
Ihr seht, die Zeiten haben sich in manchen Dingen nicht geändert. Dörfer und Städte gehen auf und unter, und immer noch ziehen Menschen aus aller Welt nach Santiago und bilden ein buntes Volk unterwegs. Viele alte Bräuche existieren weiter, belebt durch Menschen, die den Weg zu etwas Besonderem machen. Jeder einzelne trägt die Verantwortung für das, was der Weg für ihn selbst und für die anderen ist. So wie im Leben. Es ist ein grosses Glück, hier unterwegs sein zu dürfen inmitten so vieler Menschen, die meinen Wandergeist teilen. Über sie erzähle ich Euch dann beim nächsten Mal...

Liebe zeitlose Grüsse sendet Euch Euer Wanderer
Reinhold.

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Einige Impressionen